Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen (Ps 91,11)

An einer Bushaltestelle habe ich vor kurzem beobachtet, wie ein Großvater mit seiner Enkelin sprach. Das Mädchen hielt eine Karte in der Hand, auf der ein Engel zu sehen war, und fragte ihren Opa: Opa, haben Engel Flügel? -Nein, ich denke nicht., antwortete der Mann. -Aber ich habe noch nie einen Engel ohne Flügel gesehen... -Du hast sowieso noch nie einen Engel gesehen. -Aber doch. Wenn ich meine Augen zumache, und an die Engel denke, sehe ich sie. -Und haben sie auch Flügel? -Aber ja. Wie du auf diesem Bild siehst. -Ja, ja die Menschen haben sich die Engel immer so vorgestellt. Sie meinen, wenn sie Boten Gottes sind, dann brauchen sie Flügel, damit sie mit den Flügeln vom Himmel auf die Erde fliegen können.“ „Aber das stimmt doch auch.“ „Ja, es stimmt, wenn man glaubt, dass Gott im Himmel wohnt und der Himmel über den Wolken ist. Aber ich habe dir früher schon mal erzählt, dass der Himmel überall dort ist, wo sich die Menschen lieben, und dass Gott auch dort ist, wo sich die Menschen lieben, und das ist hier unten auf der Erde. So ist es auch mit den Engeln. Es gibt auch Engel ohne Flügel, Boten Gottes, die auf der Erde leben. Ob es oben welche gibt, das weiß ich nicht, aber dass es unten welche gibt, das weiß ich. Man kann sie nur nicht erkennen. Sie sind einfach nur Menschen wie du und ich, aber sie haben eine Botschaft Gottes zu sagen oder einen Auftrag Gottes zu erfüllen und darum sind sie auch Engel, Engel ohne Flügel.“ „Kann ich auch ein Engel sein?“, fragte das Mädchen. „Mag sein“, sagte Großvater, „Vielleicht bist du irgendwann einmal für irgendjemanden der rettende oder der helfende Engel.“ „Aber wenn ich tot bin, bekomme ich Flügel.“ „Das weiß ich nicht“, sagte Großvater, „das ist auch gar nicht so wichtig. Viel wichtiger sind die Engel hier auf Erden, die Engel ohne Flügel.“ Liebe Gemeinde, bei diesem Gespräch erkennt man gut, dass der Opa eine richtige protestantische Erziehung gehabt haben muss, denn er hat keine konkrete Antworten auf die Fragen nach Engeln gegeben. Wir sehen in unseren evangelische Kirchen selten Engeldarstellungen, im Religionsunterricht lernen sie darüber auch kaum etwas, und in unsere Predigten erwähnen wir sie auch sehr selten. Wo sind dann die Engel? Wenn mich jemand in meiner Kindheit gefragt hätte, hätte ich wahrscheinlich so geantwortet: Die Engel wohnen in den katholischen Kirchen... Aber wo wohnen sie wirklich? Haben sie Flügel? - und existieren sie überhaupt? Ja. Nach unserem christlichen Glauben gibt es Engel. In der Bibel kommt das Wort fast 200-mal vor. Adam und Eva wurden von Engeln aus dem Paradies vertrieben, und in der Abrahamsgeschichte teilen Engel mit, dass Sarah und Abraham ein Kind bekommen werden. Und auch im Neuen Testament sagt ein Engel Maria und Josef, dass sie ein Kind bekommen werden, und später öffnet ein Engel den Apostel die Gefängnistore. Was für Geschöpfe sind die Engel denn? Die Bibel ist darüber ziemlich wortkarg. Sie sagt, die Engel seien Gottes Diener, mit der Aufgabe betraut, Gott zu loben und zu lieben und seine Botschaften weiterzugeben. Aber wenn wir so wenig über die Engel wissen, warum treffen wir überall auf sie und warum fühlen wir uns zu ihnen so hingezogen? Ich denke, dass unsere Liebesbeziehung zu den Engeln daher kommt, dass die Menschen sich immer so schrecklich weit von Gott entfernt fühlen. Und diese Entfernung versucht man zu überbrücken, oft mit einer Mischung aus Glauben und Phantasie, mit einer eigenen Schöpfung, süsse, dicke, lockige Engel, die nicht mehr viel zu tun haben mit den Engel aus der Bibel. Warum sind uns die Engel so wichtig, dass wir immer wieder auf sie stossen? Ich denke, Menschen fühlen sich ob bewusst oder unbewusst, ob gläubig oder nicht, von geheimnisvollen, unerklärbaren, transzendenten Dingen und Ereignissen angezogen. Wir haben ein großes Bedürfnis nach Gott, auch dann, wenn wir es nicht sagen oder zeigen wollen. Wir haben ein großes Bedürfnis nach Gott, auch dann, wenn wir dieses Bedürfnis zu unterdrücken versuchen. Meiner Meinung nach hatte der Großvater Recht damit, dass die wichtigeren Engel die zwischen uns sind, die ohne Flügel. Ihnen begegnen wir jeden Tag, auch ich hatte schon das Glück, einigen zu begegnen, und ich bin mir sicher, dass hier auch einige Engel sitzen...  Gibt es heute noch Engel? Ja. Aber nicht oben im Himmel, sondern unter den Himmeln, zwischen den Menschen. Gott sendet auch zu uns Boten, und solche Engel, die vielleicht nicht gerade über Jesus mit uns sprechen, aber die uns sagen: Komm, ich helfe Dir. Oder: Ich bin gekommen, denn ich habe gehört, dass Du krank bist. Oder: Komm, ich helfe Dir mit Deinen Kindern, mach dir ein schönes Wochenende und ruhe Dich aus. Oder sie könnten auch sagen: Setz dich, meine Tochter. Ich spüle jetzt ab… Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen Ich bin sicher, dass ich nicht die einzige bin, die schon einmal solche Engel getroffen hat, sondern Sie hier sicher auch. Und ich bin mir auch darin sicher, dass Sie alle hier auch ab und an zu Engeln für andere werden, mit Ihrem Tun, Ihrem Lachen, Ihren Worten oder Gesten… Die Engel ohne Flügel machen unser Leben schöner, fröhlicher. Ich glaube, dass uns Gott seit Jesus keine Engel mit Flügeln mehr schickt, oder solche Boten, wie wir sie aus der Bibel kennen. Aber er schickt immer wieder Menschen, die unsere Engel werden können. Wegen ihrer Eigenschaften oder weil sie zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sind. Seit Jesus brauchen wir keine „echten“ Engel mehr, denn er hat uns versprochen, dass er jeder tag bei und mit uns ist. Er ist da auf seine wunderbare Weise, er ist da, wenn wir zu ihm beten, er ist da, wenn wir ihn brauchen, und auch dann, wenn wir ihn ignorieren wollen. Es ist eine wunderbare Sache, dass zwischen uns Engel leben, Engel ohne Flügel. Aber es ist noch viel wunderbarer, dass der lebendige Gott nicht nur durch seine Boten, sondern ganz real und wirklich an unserem Leben teilnimmt. Auch dann, wenn wir es mit unserer Vernunft gar nicht begreifen können, nur mit unserem Herzen spüren. Möge uns Gott geben, dass wir seine Gegenwart oft fühlen dürfen. Und möge er uns Engel ohne Flügel schicken, und uns dabei helfen, dass auch wir Engel sein dürfen für andere, wenn sie uns brauchen. Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen. Eszter Heinrichs Nordburgenlandischen Frauentag, Oberschützen, 21. April 2012