"Deiner Heimat sei unerschütterlich treu..."
Es gibt Ortschaften, die vom 20. Jahrhundert überrannt wurden. Mit rasantem Schwung, unerbittlich, mit Zermalmung, Zerschmettern und Verwüstung. Das in Westungarn liegende Agendorf ist auch eine solche. Durch Trianon wurden seine Äcker, die Bahnlinie, die verwandtschaftlichen Beziehungen und der natürliche Lebensraum zersplittert. Durch den Weltkrieg – der hier genauso seine Opfer forderte wie anderenorts – bekamen die Agendorfer noch der Stempel „Kriegsverbrecher” aufgedrückt, infolge dessen gut zwei Drittel der Bevölkerung 1946 ausgesiedelt wurde. Ein Trauma, das nie aufgearbeitet werden kann. Dann kam 1956...
In Agendorf gab es keine Kämpfe, aber es lag die Staatsgrenze hier, eine Verlockung für Tausende, die ihren Hut nehmen wollten. Die Agendorfer erzählen, einige Wochen lang sollen die „Fremden” hier fast in geschlossenen Reihen gekommen sein, mit Kinderwagen, kleinen Kutschen, großen Bündeln… Und jene, die am meisten entschlossen waren, kamen auch nach der Grenzschließung. Von den Einheimischen – die die verborgenen Winkel und Ecken der Gegend gut kannten – wurde ihnen diese oder jene Hilfe geleistet. Mit einem guten Wort, mit Essen, Unterkunft, guten Ratschlägen. Sehr viele „sechsundfünfziger Ungarn” können den Agendorfern verdanken, dass sie in der Nacht (und wer weiß, wodurch und durch wen noch) verhüllt das Land der Verheißung, österreichischen Boden erreicht hatten.
Die evangelische Seelsorgerin der Gemeinde, die mit den Schriften von Márai und Faludy aufgewachsen war und diese Zeilen jetzt verfasst, hört seit acht Jahren erstaunt, mit offenem Mund den nicht alltäglichen Geschichten der Dorfbewohner zu – über Trianon, die Vertreibung, über ’56, den Eisernen Vorhang, über die „De-De-eR-ler [endékások]”, über die Schmuggleraktionen und die heutigen kleinen Gaunereien an der Grenze – sie kann bei den Gemeindemitgliedern, die ’56 erlebt hatten, nicht um die Frage herum, warum sie hier geblieben sind. Es hätte ja vor sechzig Jahren hier jeder in Sekunden abhauen können. Mit ihrer deutschen Muttersprache hätten sie sich überall in Europa leicht durchsetzen können. Durch die Vertreibung ’46 war auch „für westliche Verwandtschaft” gesorgt. Die meisten sind dennoch hier geblieben. Einige von ihnen habe ich nach den Gründen ihres Bleibens befragt:
„Wir haben gewonnen, wir haben gewonnen …”
Kirchknopf, Karl (67), Hans (64) und Lisi (69)
K. H.: Warum wir nicht gegangen sind? Unsere Großmutter wollte „nach Amérikába [mit der ungarischen Endung >-ba< für >nach<]” gehen, und auch meine Eltern. Wir hatten dort auch Verwandte. Viele aus dem Dorf sind gegangen. Aber der Opa wollte bleiben. Zum Teil auch wegen der Sau, die im Saustall war. Es war November und bei uns war der Dezember die Zeit für das Abstechen. Und im Keller war der neue Wein. Der war mitten im Gären. Wir sind also nicht gegangen, obwohl meine Eltern einmal bereits gepackt hatten. Wegen der Großeltern sind wir also geblieben. Unsere Mutter würde vielleicht auch heute noch leben, wenn sie im Westen eine Behandlung mit normalen Medikamenten bekommen hätte …
K. K.: Ich kann mich erinnern, im Frühjahr ’57 sind wir im Grenzgebiet herumgelaufen, nicht weit von den Schienen. Wir spielten häufig dort und begafften die aus Österreich durchfahrenden Korridorzüge. Von diesen Zügen aus wurden uns ’57 noch Zuckerl, Schokolade, Süßigkeiten zugeworfen. Einmal gelang es uns sogar, einen Ball aufzufangen. Ich werde das nie vergessen, einer von uns hat da das erste Mal in seinem Leben Schokolade gesehen und bekommen. Sie wurde ihm von jemandem aus dem Zug zugeschmissen. Er rannte nach Hause und rief auf dem ganzen Weg immer nur: „Wir haben gewonnen, wir haben gewonnen …”
K. H.: Sechsundfünfzig ist auch aus der Sicht der Vertriebenen sehr interessant. Sie beobachteten die Ereignisse in Ungarn von außen. Die meisten wollten nach Hause zurückkehren, sie waren schon am Organisieren. … Sie haben erst ’58 mit dem Bauen begonnen und ließen sich erst dann so richtig nieder in Deutschland.
K. L.: Ich würde gern noch eine witzige Geschichte über ’56 erzählen! Es war Herbst, die Zeit für die Weinlese. Die Agendorfer haben nicht nur in den eigenen Weingärten Wein gelesen, sondern auch woanders ausgeholfen. Einmal, als sie nach Wolfs [Balf] unterwegs waren, wurden sie bei der „Großen Brücke” zwischen Agendorf und Sopron von russischen Soldaten angehalten. In der ungarischen Sprache waren weder die Russen noch die Agendorfer besonders bewandert, deshalb ereignete sich ein bis heute denkwürdiger Dialog zwischen uns. [Um die „Pointe” verstehen zu können, muss man wissen, dass das deutsche Wort „lesen” nicht nur „Buchstaben entziffern [ung. >olvasni<” bedeutet, sondern auch mit „ernten, aufsammeln, ung. > szedni, szüretelni<” übersetzt werden kann. – H. E.]
– „Kuda? Kuda?“ [Wohin, wohin?] – fragten die russischen Soldaten.
– „Wohin? Lesen.“
– „Lesen? Tschitatj? [Bücher lesen?] Das glauben wir nicht, dass ihr irgendwo lesen hingeht … “, erklärten die russischen Soldaten. Aber danach winkten sie und ließen uns unseren Weg gehen. Nun, so haben wir unser Leben hier ’56 gefristet...
„ UNERSCHÜTTERLICH…” auf dem Hocker
Zeltner, Liska (68)
Vor den russischen Soldaten hatte jeder Angst. Die „Russki” wurden viel beschimpft, aber ich habe mir bereits in meiner Kindheit gedacht, dass auch sie hinters Licht geführt worden waren.
Im November 1956 gab es keinen Zugverkehr zwischen Agendorf und Sopron, deshalb sind wir einmal mit der Rodel in die Stadt. An der Gemeindegrenze am alten Friedhof standen russische Soldaten. Meine Mutter machte uns aufmerksam, uns ordentlich zu benehmen, weil es leicht sein könnte, dass wir kontrolliert würden. Zwei Offiziere kamen dann auch zu uns, aber sie wollten nicht unsere Papiere haben, sondern sie suchten nach dem „großen Wasser”.
– Kdje bolschaia Woda? [Wo ist das große Wasser?]
– Was für ein großes Wasser?, fragte meine Mutter, die ein Bisschen auch Russisch konnte.
Der eine Offizier zeigte auf den Bach, der an unseren Füßen vorbeifloss und sagte: „Das hier sei das „malenjkaia Woda”. Meine Mutter wollte erklären, dass das „bolschaia Woda” hier die Donau bei Vienna, sowie die Raab und die Rabnitz seien. Aber der russische Soldat beharrte bedingungslos auf seinem „bolschaia Woda”. Schließlich rückte er damit heraus: „Kanal Suez.” Er hat den Suezkanal gesucht. Er war im Glauben, dorthin kommandiert worden zu sein... Am nächsten Tag kam ein Panzer ins Dorf, voll mit russischen Soldaten. Auch unser „Offizier” befand sich unter ihnen. Er ließ meiner Mutter seinen Dank für ihre Hilfe ausrichten. Uns hat er Zuckerl geschickt.
Paar Wochen darauf, Anfang Dezember trafen meine Eltern die Entscheidung, gen Westen aufzubrechen. Aus Agendorf sind viele weg, unter ihnen auch gute Freunde unserer Familie. Es war organisiert, dass uns ein Lastwagen in der Nacht abholt. Es hätte alles Platz gehabt. Wir hätten auch die Möbel und sogar das Schwein mitnehmen können. Bis zum Dunkelwerden hatten wir alles gepackt. Aber meine kleine Schwester, die damals zwei Jahre alt war, weinte so stak, dass sie bis zum Abend lauter rote Flecken auf dem Kopf hatte. Von einem Arzt natürlich keine Spur… Wir wussten nicht, woher die Flecken auf dem Kopf waren, die Stimmung war also äußerst betrübt zu Hause.
Das Tüpfchen aufs „i” getan wurde dann aber von mir, als ich mich auf den Hocker stellte und laut das Gedicht aufsagte, das wir gerade in der Schule gelernt hatten. Es war der „Szózat” Ich rezitierte und rezitierte nur, indem ich auf dem Hocker stand:
„Hazádnak rendületlenűl / Légy híve, oh magyar; / Bölcsőd az s majdan sírod is…” [Wörtliche Übersetzung:„Deiner Heimat sei unerschütterlich treu, oh Ungar!
Dies ist deine Wiege und dereinst auch dein Grab…]
Da weinte nicht mehr nur meine Schwester, sondern auch meine Mutter… „Wir gehen nirgendwo hin…”, verkündete sie und begann auszupacken. Wir blieben zu Hause. Unsere Freude war grenzenlos.
Wenn das Mädchen keinen Hautausschlag am Kopf bekommt, hat die Agendorfer Gemeinde heute gewiss nicht sie als Inspektorin… Wenn das größere Mädchen nicht beginnt, die Ansprache an die Nation zu rezitieren, ist es höchstwahrscheinlich nicht sie, die den Altar unserer Kirche jahrzehntelang mit wunderbarer Blumenpracht verziert … Und wenn bei Kirchknopfs der Sautanz einen Monat früher stattfindet und sie gehen, dann würde heute der beste Blaufränkisch der Gegend nicht von ihnen erzeugt werden, und wir hier in der Grenzgegend würden viel-viel ärmer ohne ihre Geschichten, ohne ihr mit deutschen Elementen vermischtes Ungarisch, ohne ihre Weine und die vielseitige Hilfe ihrerseits sein.
Wenn all dies nicht so passiert wäre, hätte die verhängnisvolle Geschichte der Agendorfer Kirchengemeinde im 20. Jahrhundert 1956 vielleicht auch ein trauriges Ende genommen …
Heinrichs, Eszter
Übersetzt von Ferenc Tauber
Der Artikel erschien in Nr. 41., Jahrgang 81. des Magazins „Evangélikus Élet”[Evangelisches Leben], am 16. Oktober 2016.